Regenschauer. Ich nehme den Duft wahr, spüre seine kühlen Tropfen auf meiner Haut. Mein Kleid ist völlig durchnässt, doch das macht mir nichts aus. Ich tanze im Regen, begrüße das Gefühl der Losgelöstheit, welches sich in mir ausbreitet. Ein vollkommener Moment, am Ende eines heißen Sommertages.
Ich rufe ihn hervor, während ich mich auf dieser Cocktailparty befinde. Allein zwischen Menschen, die für mich Gesichtslose sind. Ich kenne so gut wie niemanden hier. Aber spielt das eine Rolle? In einer Welt, in der Kontakte so ziemlich alles sind. Und in der es nicht gern gesehen wird, wenn die Frau des Chefs klammheimlich verschwindet.
Also sitze ich hier, in einem schwarzen Kleid, welches sich wie eine zu enge Schnur anfühlt. Ich suche einen Weg sie zu lösen und verliere mich dabei in Erinnerungen. Und da ist er, der Regen. Ein Abend aus meiner Jugendzeit, kurz nach dem Abitur, als alles möglich zu sein schien. In dem ich die Freiheit förmlich schmecken konnte.
Ich spüre, wie sich die Schnur zu lösen beginnt und mich von einem Druck befreit, der meine Taille umgab. Sie in eine unnatürliche Puppenform zwang.
Meine Gedanken tragen mich erneut in die Vergangenheit. Nun ist es kein herunter prasselnder Regen, den ich vernehme, sondern das Zwitschern von Vögeln, die den Morgen begrüßen. Ich springe aus meinem Bett und meine zwei geflochtenen Zöpfe wirbeln umher. Ich renne hinaus in unseren Garten, der sich an einem nahegelegenen Wald befindet. Zu dem morgendlichen Konzert der Vögel, reiht sich das Rascheln der Blätter ein, die im Winde tanzen. Es ist ein Moment der Sorglosigkeit.
Die Schnur, die sich um meine Brust gewunden hatte, löst sich langsam und ich beginne wieder gleichmäßiger zu atmen.
Ich höre Schreie. Nein, eigentlich ist es viel mehr ein fröhliches Aufjauchzen. Es sind Kinderstimmen, die ausgelassen feiern. Ich befinde mich jetzt auf der Feier zu meinem zehnten Geburtstag. Es war mit Abstand das schönste Fest aus meiner Kindheit. Nicht, weil wir im Zoo, Schwimmbad oder Freizeitpark waren. Wir befanden uns in unserem Garten. Ich, zehn meiner liebsten Schulfreunde und meine Familie. Wir aßen leckeren Kuchen, hörten die Schlümpfe-Partyhits und sprangen dabei wie wild umher. Es war einer jener Tage, der erst durch sie, zu etwas Besonderem wurde.
Auch die Schnur an meinen Beinen beginnt sich zu lockern, bis sie an mir leblos hinabgleitet. Ich bin jetzt bereit aufzustehen.
Ich gehe an den Gästen vorbei, die sich wie mechanisch zu gespielter Musik bewegen. Würden sie die Losgelöstheit eines schwingenden Kleides im Regen spüren können? Oder das Gefühl der Freude, welches durch wilde Hopser erzeugt wird? Ich glaube nicht. Denn trotz ihres Tanzes, scheinen sie still zu stehen.
Ich gehe, ohne mich zu verabschieden und spüre die Blicke der Gesichtslosen in meinem Nacken. Ich bin dankbar dafür, in ihnen eine Regung hervorgerufen zu haben. Den Stillstand in ihren Augen durchbrochen zu haben.
Ein Fahrstuhl befördert mich ins Erdgeschoss und ich beginne erneut, meine Gedanken schweifen zu lassen. Doch diesmal ist es keine Reise in die Vergangenheit. Ich denke über die Bedeutung des Wortes nach, welches sich durch meine Szenarien trug. Zeit.
Zeit ist vergleichbar mit Wüstensand. Beide können Stürme heraufbeschwören oder an uns hinabrieseln, zart und warm. Wir können sie nicht aufhalten und müssen uns nach ihrem Tempo richten. Und manchmal gilt es, sich vor Brandwunden zu schützen.
Am Ausgang angekommen, schaue ich auf die gegenüberliegende Straßenlaterne. Es regnet und jeder einzelne Tropfen wird von ihr hell erleuchtet. Ich denke wieder an den Moment aus meiner Jugend.
Ich gehe hinaus und beginne zu tanzen. Der Regen prasselt an mir hinab. Mein Kleid schwingt diesmal nicht und die Tropfen des Regens bieten keine angenehme Abkühlung, sondern lassen mich frösteln. Doch das scheint nicht von Bedeutung zu sein.
Ich stehe im Regen, sehe hinauf und habe das Gefühl, eine entstehende Brandwunde rechtzeitig gelöscht zu haben.
Bild von: souravmmishra