Ihre Lippen dürstete es nach Blut. Zu lange kamen sie nicht mehr in den Genuss des Trankes, der ihnen Leben einhauchte. Sie wirkten blass und von Dürre gezeichnet. Doch auch ihre Trägerin wirkte kraftlos und ausgetrocknet.
Sie kannte es nicht. Dieses Gefühl der Schwäche. War sie es doch immer, die um Gnade angefleht wurde. Jedes Mal, wenn sie ihre Krallen an den Hals ihrer Opfer legte.
Dieses Jammern, von diesen unbedeutenden Leben, dachte sie. Wie erbärmlich.
Menschen waren schwach. Daher war es nur richtig, dass sie als Nahrungsquelle dienten. IHRE Nahrungsquelle. Doch jetzt war der Kelch in ihrer Hand leer und die Quelle, um ihn zu füllen, versiegt.
Es war die Gier, die sie in diese Lage brachte. Zu oft erfreute sie sich an dem Leid ihrer Opfer. Dem Moment, wenn ihnen das Leben aus ihren Augen wich und sie sie nur noch kalt anstarrten. Daher gehörten Besuche der Ställe in den letzten Monaten zu ihrer Tagesordnung. Die Menschen stapelten sich schon und sie dachte, ein oder zwei Kehlen mehr würden nicht viel ausmachen. Doch jetzt waren die Ställe leer und nur noch von einem Geruch umgeben, der die traurige Menschlichkeit ihrer Opfer unterstrich.
Ekelhaft, dachte sie bei ihrem letzten Besuch.
Nun saß sie auf ihrem Thron und fragte sich, wieso sie diese unwürdigen Kreaturen zum Überleben brauchte. Sie blickte in das von Gold umzogene Gefäß, als hoffte sie, jenes mit der Kraft ihrer Gedanken füllen zu können. Und da entdeckte sie ihn. Einen roten Tropfen.
Sie schwenkte den Kelch, um sicher zu gehen, dass ihr von Schwäche getrübter Blick, sie nicht hinterging. Der Tropfen fügte sich der Neigung des Gefäßes und belegte seine Echtheit.
Wie ungezogen, dachte sie. Hatte er sich doch tatsächlich ihrem Hunger widersetzt.
Sie hob den Kelch an, lehnte ihren Kopf zurück und ließ den Tropfen ihre Zunge hinuntergleiten. Dankbar nahm ihre Kehle ihn entgegen.
Die Frau mit dem weißen Haar, schloss die Augen. Sie wollte ihn genießen, diesen Moment. Spürte den Weg des Tropfens, bis hin in ihr kaltes Inneres.
Sekunden später riss sie ihre Augen auf. Sie stachen blau hervor und rote Äderchen umrahmten sie. Sie fingen an zu pulsieren und wuchsen zusammen wie Flussgabelungen, deren Ufer übertraten. Ihr Augenweiß wurde zu einem See, deren Farbe aus dem Blut ihrer Opfer zu bestehen schien.
Der Wille zu überleben und die Gier nach Grausamkeit vereinten sich und ließen ihre verloren geglaubten Kräfte zurückkehren.
Es stellte sich für sie nur noch eine Frage.
Wo war ihre nächste Beute?