Lieber Dachbewohner,

ich weiß nicht, ob dich dieser Brief erreichen wird. Aber ich hoffe es sehr.

Es ist schon sehr lange her, dass ich geschrieben habe, also bitte verzeih, sollte meine Schrift wirken, als wäre dieser Brief aus Hektik heraus entstanden. Zeit ist doch jenes Gut, welches wir zuhauf haben, oder?

Die Sonne brennt auf meiner Haut. Es ist wieder so ein Tag, an dem ich den Schutz des Baumschattens unterschätzte. Doch brauche ich ihn nicht, diesen Schutz. Ich möchte ihn spüren, diesen Schmerz. Denn es ist ein Gefühl, welches ich nicht verleugnen kann. Welches meine menschliche Hülle trifft und mein inneres Leiden etwas verblassen lässt.

Es tut mir leid. Natürlich möchte ich unser Dasein nicht noch trister erscheinen lassen. Jedoch zerrt die Einsamkeit an mir. Es fühlt sich an, als würde ich fallen und unter mir befindet sich nichts als Dunkelheit. Es existiert kein sanfter Boden, der meine Verlorenheit abfedern könnte.

Als uns die Flut traf, dachten wir, wir wären vorbereitet. Wir bauten Gärten, schafften einen grünen Lebensraum, hoch oben über unseren Köpfen. Wir dachten, Gründächer wären unsere Arche. Ein Schiff, welches nie in See stechen würde, es jedoch vermochte, uns vor dem Ertrinken zu retten. Eine grüne Welt, voller Hoffnung auf eine Zukunft.

Welche Narren wir doch waren.

Erinnerst du dich noch an den Anfang? Für mich scheint es ewig her zu sein. Als wir uns noch als eine "Grüne Gemeinschaft" bezeichneten und mit Booten von Dach zu Dach fuhren, um Lebensmittel zu tauschen. Ich weiß noch, Dach 7 hatte die leckersten Erdbeeren. Unglaublich saftig und ein Geschmack, der pure Lebensfreude ausdrückte. Im Gegenzug erhielten sie Äpfel von uns, die als die knackigsten bekannt wurden. Ein Tausch der roten Genüsse sozusagen.

Doch eines Tages kippte die Stimmung. Manch Bewohner schlich sich nachts auf ein Boot und bediente sich hemmungslos bei den Gärten anderer. Gefühle von Wut und Unzufriedenheit türmten sich auf und ließen sie mit der Zeit in Gewalt umschlagen. Boote anderer Dachinseln wurden zerstört und die, die übrig blieben, fielen dem Wetter zum Opfer. Stürme rissen sie davon. Die Natur schien uns erneut dafür zu bestrafen, dass wir ihre Gaben nicht zu schätzen wussten. Habgier und Missgunst des Menschen obsiegten und so war ab sofort jedes Dach auf sich gestellt.

Aber was erzähle ich dir das? Du hast es sicher selbst erlebt. Erlebt, wie sich Bekanntschaften, die sich zuvor als Freunde bezeichneten, plötzlich aufeinander losgingen. Wie in einem Wutrausch die schönen Boote vernichtet wurden. Das Holz, welches dafür verarbeitet, nicht geschätzt wurde. Jedoch hatte ich Glück. Ich behielt auch nach diesem ganzen Chaos einen wahren Freund: Luke.

Wir vertraten beide die Ansicht, dass es keinen Sinn hatte, sich um eine Handvoll Pfirsiche zu streiten. Dass es viel wichtiger war, zusammenzuhalten, in einer Welt, die nichts für uns zu bieten hatte, außer dem nassen Blau, welches uns umgab.

Letzten Monat verstarb er. An was, kann ich dir nicht sagen. Es war eine Krankheit, die seinen Körper verfallen ließ und später auch seinen Geist. In meinen Armen fand er seine letzte Ruhe, ich ließ ihn hinab ins Wasser und er trieb davon.

Da begann er, mein Fall. Auch ich schien davon zu treiben, in eine Welt voller Stille.

Doch dann, vorhin um genau zu sein, flog mir eine Zeitung entgegen und zog mich aus jener heraus. Wahrscheinlich wurde sie von einem anderen Dach zu mir getragen. Ich bestaunte die schwarzen Druckbuchstaben und wie sie sich auf meinem Finger leicht abfärbten. Ich begann zu lesen und das Bedürfnis zu schreiben, wurde in mir geweckt.

So sitze ich hier, unter dem Apfelbaum, den Luke so liebevoll pflegte und erzähle dir meine Geschichte, die zum Teil auch unsere ist.

Ich würde mich freuen, auch von deinem verborgenen Teil zu hören.

Liebe Grüße,

Dach 4



Bild von: anya.list