Es ist dunkel, mein Weg einzig durch Laternen erhellt. Doch Angst verspüre ich nicht. Mir ist diese Strecke bekannt, denn ich laufe sie jeden Morgen.
Meine Augen sind geschlossen, ich fühle nur noch den kühlen Wind in meinem Gesicht und wie sich mein Körper langsam erwärmt. Das Laufen lässt meine Gedanken schweben, Sorgen entschwinden und Deadlines unwichtig werden. Ich werde eins mit meiner Umgebung.
Geradeaus. Immer weiter geradeaus.
Eine Stimme durchbricht meine Schwerelosigkeit. Ich bleibe abrupt stehen, öffne die Augen und versuche mich wieder im Hier und Jetzt zurechtzufinden. Ich sehe mich um, doch es scheint kein Mensch da zu sein. Das Einzige, was zu sehen ist, ist funkelndes Weiß, welches mich umgibt. Wunderschön hat sich der Winter in den letzten Tagen über mein Zuhause gelegt. Erst waren es ein paar Flocken, die sanft zu Boden rieselten. Viel zu schnell jedoch, entschwanden sie wieder. Heute ist es das erste Mal, dass mich diese Schönheit auch auf meiner Route begleitet.
Ich entscheide, nicht mehr verwirrt von der auftauchenden Ermahnung zu sein und mich lieber an meiner neuen Umgebung zu erfreuen. Erneut schließe ich die Augen. Kalte Winterluft durchdringt meine Lunge und ich beginne zu laufen. Doch die innere Ruhe, die Verbindung mit meiner Umgebung, sie gelingt nicht. Meine Gedanken rotieren. Der plötzliche Stillstand hat mich wieder in das Rädchen des Alltags zurückgeworfen. Ich denke an meinen Job, diese eine Entscheidung, die große Veränderung bedeuten könnte und an Jolie. Vor allem an Jolie.
Bleibe stehen und du zerfällst.
Schon wieder diese Stimme! Ich bleibe stehen und blicke auf. Versuche zu erfahren, welche Gestalt da zu mir spricht. Doch wieder sehe ich nichts. Ich beginne an meinem Verstand zu zweifeln. Sollte ich vielleicht umkehren? Der Gedanke, mich wieder neben Jolie ins warme Bett zu legen, erfüllt mich mit Vorfreude. Leider konnte ich sie nie dazu bewegen, mich beim Laufen zu begleiten. "Du bist ja verrückt", sagte sie, nachdem ich nach unserer ersten gemeinsamen Nacht wie gewöhnlich fünf Uhr morgens aufstand, um den kühlen Morgen auf meiner Haut zu spüren.
Meine Gedanken finden wieder in den Moment zurück und die ungewöhnliche Stimme scheint verschwunden. Doch wie würde ich sie beschreiben? Etwas zittrig auf jeden Fall, ich vermag zu sagen, nicht menschlich. Doch kann das sein?
Bevor meine Gedanken erneut den Moment verlassen, nehme ich im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ich drehe mich zur Seite und entdecke eine längliche Figur, die sich in Wellen durch den Schnee windet. Sie ist weiß und hebt sich nur durch ihr Glitzern von der Umgebung ab. Sogar das Funkeln des Schnees scheint sie zu untergraben. Plötzlich türmt sie sich auf: "Na, kommst du?"
Und jetzt sehe ich es. Ihre grazile Fortbewegung, das Zittern in ihrer Stimme.
Es ist eine Schlange, die zu mir spricht.
Ohne lange zu überlegen, folge ich ihr. Meine Schritte beschleunigen sich mehr und mehr, denn sie ist schnell, lässt mich kaum Luft holen. "Wo willst du denn hin?", rufe ich ihr atemlos nach. "In eine Welt des Wirklichen", entgegnet sie mir. Und noch bevor ich überlegen kann, was dies bedeuten soll, verändert sich meine Umgebung. Vor mir türmen sich rosa Häuser auf, so luftig, dass sie aus Zuckerwatte zu bestehen scheinen. Zwischen ihnen stehen Bäume, deren Äste an bunte Lollis erinnern. Und der Weg, auf dem ich gehe, ist weiß. Jedoch fällt es mir schwer, mein Gleichgewicht zu halten. Stehe ich gerade wirklich auf Marshmallows?
Erneut türmt sich die Schlange vor mir auf. Sie ist so nah, dass mich ihre Größe zusammenzucken lässt.
"Was siehst du?", fragt sie und schaut mich dabei eindringlich ein. "Eine Welt, bestehend aus Süßigkeiten", antworte ich ihr. Doch eigentlich ist es nur sie, von der sich mein Blick nicht abwenden möchte. Wunderschön ist diese Gestalt, bestehend aus kleinen Kristallen, die um die Wette strahlen.
"Wie glaubst du, sind wir hierher gelangt?", fragt sie mich nun. Was soll ich darauf antworten? Sie war es doch, die mich in diese Welt entführte.
"Vielleicht durch Magie?", antworte ich ihr schließlich.
"Magie ist jene Macht, die wir uns in unseren Köpfen ausmalen. Wir entscheiden, was uns als magisch erscheint, verleihen Dingen, die wir uns nicht erklären können und als wunderschön empfinden, solch eine Bedeutung." Die Schlange mustert mich erneut. "Dies Lisa, ist die Magie deiner Träume."
Ich träume? Natürlich tue ich das, wie könnte dies auch wahr sein. Eine sprechende Schlange, eine Welt, so süß und frohlockend, dass sie nur eine Zuflucht aus der Realität sein kann. Doch egal, wie schwer sich diese anfühlen mag, Jolie macht mir eine Flucht unmöglich.
"Du täuschst dich", sagt die Schlange, als könnte sie meine Gedanken lesen. "Hier und jetzt ist diese Welt real. Erreichbar, weil du es ermöglicht hast. Geschaffen, allein durch deine Gedanken." Erst jetzt begreife ich. Auch diese Schlange entspringt meinen Träumen.
"Was willst du?", stellt sie mir erneut eine Frage. "Du hast eine Entscheidung zu treffen."
Eine Entscheidung, natürlich. Als Teil meines Ichs wusste die Schlange davon. Und wahrscheinlich kennt sie bereits die Antwort.
"Das Leben", sprach die Schlange weiter, "wartet nicht. Angst zu haben ist okay, doch in ihr zu verharren, erschafft Grenzen." Während sie spricht, beginnen einzelne Kristalle an ihr herunterzurieseln. "Überwinde sie."
Ich sehe sie an und denke an Jolie. Dies sind Worte, die auch sie gewählt hätte, um mich zu überzeugen. Doch bin ich nicht jene, die an sich glauben sollte?
Es kommt mir vor wie ein kurzer Moment, in dem ich die Schlange nicht wahrnehme. Als ich sie wieder vor mir sehe, beginnen sich die Kristalle wie Wasserfälle an ihr hinabzubewegen.
"Oh nein, was passiert mit dir?", entfährt es mir mit sorgenvoller Stimme.
"Habe keine Angst", sagt die Schlange ruhig. "Ich sagte doch, stehen zu bleiben bedeutet Zerfall."
Mit Tränen in den Augen sehe ich, wie sich die Schlange auflöst. Kristall um Kristall entzieht sie sich meinem Traum. Ein Windhauch lässt die glitzernden Punkte zu mir schweben, als seien sie Glühwürmchen. Sie umgeben mich, streifen sanft mein Gesicht und landen vereinzelt auf meiner Zunge. Schmecke ich Zucker?
Und noch, bevor mir Raum für eine Antwort gewährt wird, erwache ich. Immer noch kitzelt mich etwas im Gesicht, doch sind es keine Zuckerkristalle, sondern eine von Jolies Haarsträhnen. Ich denke an den Traum zurück, sehe meine Zukunft vor mir und lächle.
Zeichnung von: Zeichenprozess