Menschenmassen durchqueren die Straßen. Es ertönen Pfiffe und Rufe. Das Hupen eines Trabants schließt sich an. Die Menge strömt auf die 3,60 m hohe Betonwand zu. Plötzlich Stille. Der eigene Atem ist nun das einzig wahrnehmbare Geräusch. Es wird von einem Quietschen durchkreuzt. Die Tore öffnen sich, der Atem stockt und ein Jubeln durchbricht die Stille.
Der 09. November 1989 war ein bedeutsamer Tag, nicht nur für die Bürger der DDR. Auch jene, die in der BRD lebten, verspürten ein Gefühl von Freiheit, als die Mauer fiel. Denn nun konnten sich Menschen aus Ost- und Westdeutschland endlich wieder in den Armen liegen. Jörg Johne, damals aus West-Berlin und Heike Weber aus der DDR, erzählen, wie sie den Mauerfall erlebt haben und was er für sie bedeutet hat.
Ein Abend, der alles veränderte
Es ist der Abend des 09. Novembers 1989. Jörg Johne war bei einem Freund zu Gast, als ein Bekannter anrief und erzählte, es würde sich etwas an der Brücke der Bornholmer Straße ergeben. An dieser Straße befand sich damals ein Grenzübergang, der Ost- von Westberlin trennte. Johne erzählt: "Wir haben es rufen hören: 'Die Mauer muss weg, die Mauer muss weg!'" Gemeinsam teilten Johne und seine Freunde diese Hoffnung auf Veränderung: "Die Grenzbeamten wurden somit von beiden Seiten beschallt."
Aber dass es an diesem Abend zu so einem Erlebnis kommen könnte, hätte Johne nie für möglich gehalten: "Wir waren bei einem Kumpel, haben zusammengesessen und gequatscht. Es hatte niemand mit so etwas gerechnet." Die Pressekonferenz von Günter Schabowski hatte der damals 24-Jährige nicht gesehen: "Nachrichten waren für uns Jugendliche damals noch nicht so interessant", erzählt Johne.
Günter Schabowski, SED- Mitglied und Berliner Generalsekretär, sollte an diesem Abend über eine neue Reiseverordnung sprechen. Jedoch interpretierte er den Inhalt des ihm vorgelegten Dokumentes falsch und verkündete auf die Frage hin, wann die Reisefreiheit gegeben sei: "Nach meiner Kenntnis ist das sofort. Unverzüglich."
Gerhard Lauter, der für den Inhalt des neuen Reisegesetzes verantwortlich war, erinnert sich an diesen Abend sehr gut. In einem Interview mit der Deutschen Welle sagt er: "[Günter Schabowski] wusste nicht, was er da vorlas." Schabowski habe die Mappe, ohne sie vorher zu lesen, zur Pressekonferenz mitgenommen und vorgetragen.
Um 20:00 Uhr berichtete die ARD von der Öffnung der Grenze und die ersten DDR- Bürger begaben sich auf den Weg zur Mauer. Um 21:20 Uhr öffnete der Grenzübergang "Bornholmer Straße" als erster Kontrollpunkt seine Tore für die Ostberliner. Jedoch glich ein Übertreten der Grenze zu diesem Zeitpunkt einer Ausbürgerung, denn die passierenden Menschen erhielten einen Stempel in ihren Pass. Dieser wurde direkt neben ihr Lichtbild gesetzt und machte den Pass somit ungültig. Statt ein Visum zu erhalten, wurden sie nun unfreiwillig ausgebürgert.
Erst drei Stunden später öffnete der damalige Oberstleutnant Harald Jäger die Tore für Ein- und Ausreisende ohne Bedingungen. Eine Ausreise war nun möglich, ohne Angst haben zu müssen, nicht wiederkehren zu dürfen. Jäger erzählt gegenüber Ufa Fiction, wie er den damaligen Moment erlebt hat: "Es ist kein Blut vergossen worden. Es sind nur Tränen der Freude geflossen und zum Glück ist auch niemand verletzt worden." Er erklärt weiter, wieso die Situation damals hätte auch ganz anders ausgehen können: "Man stelle sich vor, wenn Panik ausgebrochen wäre. Wenn Personen ohne unser Zutun verletzt oder in Ohnmacht gefallen wären. Die Menschen wären über sie hinweggelaufen. Dann hätte es wahrscheinlich Tote gegeben", so Jäger.
Johne feiert an diesem Abend nicht nur mit seinen Freunden: "Wir sind dann mit allen, die aus Ostberlin kamen, Richtung Ku'damm gelaufen." Die Westberliner Polizei war zwar anwesend, so Johne, jedoch musste sie nicht einschreiten. Der friedliche Ausgang der Grenzöffnung sorgte für Ausgelassenheit unter den Menschen: "Da war nur Party, nur Freude. Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man nicht dabei gewesen ist. Eine halbe Stunde war es richtig still. Es hat keiner etwas gesagt. Es war eine richtige Gänsehautstimmung."
Das Tal der Ahnungslosen
Heike Weber erfuhr wie Johne über Umwege von der Grenzöffnung. Die damals 19-Jährige erzählt: "Ich war zu diesem Zeitpunkt in Ilsenburg im Harz Urlaub machen. Wir waren abends immer im Gasthof 'Zu den Rothen Forellen' essen. Am 09. November saßen wir dort und haben uns gewundert, dass im Saal gegenüber, die Menschen fluchtartig den Raum verließen. Nach Stunden kamen sie mit Aldi-Tüten wieder. Wir hatten damals kein Fernsehen oder Radio und wussten nicht, was vor sich ging. Im nächsten Moment sagten sie uns, die Grenzen seien offen."
Zu DDR- Zeiten hatte nicht jeder die Möglichkeit, Radio oder Fernsehen zu empfangen. Viele waren auf Mundpropaganda über Freunde oder Bekannte angewiesen. Johne erinnert sich an einen Freund: "Er wohnte in der Sächsischen Schweiz und hat das gar nicht mitbekommen. Er hat in der Viehzucht gearbeitet, ist am nächsten Morgen um vier Uhr zur Arbeit gegangen und hat sich gewundert, warum er allein war", erklärt Johne.
Die Sächsische Schweiz gehörte damals zum "Tal der Ahnungslosen". Dieser Ausdruck wurde für Gebiete der DDR genutzt, die kein Westfernsehen empfangen konnten. Aber auch war oft das DDR-Fernsehen selbst betroffen, sodass kaum bis gar keine Informationsverbreitung erfolgen konnte.
Der Wunsch nach Freiheit und Wiederkehr
Weber erinnert sich an den Moment, als sie zum ersten Mal die BRD betrat: "Es war für mich absolut unwirklich, als ich über die Grenze lief. Ich habe die vielen älteren weinenden Menschen gesehen und als Kontrast dazu die wild feiernden jungen. Ich habe nie gedacht, dass die Grenzöffnung so schnell und unblutig passiert."
Auch Johne erinnert sich an die ergreifenden Momente, also Ost und West aufeinandertrafen: "Wir haben die Straßen blockiert. Die Trabis sind nur noch schritt gefahren, es war einfach toll. Man hat gemerkt, dass die Menschen aus dem Osten diese Freiheit genossen haben."
Jedoch war die Angst der DDR- Regierung, dass bei Grenzöffnung die Bürger in Strömen auswandern könnten, nach Johnes Meinung unbegründet: "Ich habe oft gefragt 'Bleibst du jetzt hier?', aber es kam immer die Antwort 'Ne, ich gehe wieder zurück'. Sie wollten nicht im Westen bleiben."
Für Weber bestand zwar der Wunsch nach Reisefreiheit, jedoch wollte auch sie nicht auswandern: "Ich wollte nie aus der DDR ausreisen. Das hätte bedeutet, dass ich meine Familie und meine Heimat nie wiedergesehen hätte. Beides hätte mir unendlich gefehlt. Das war der Grund für das Bleiben." Sie ist sich aber sicher, wäre man den Wünschen der Bürger entgegengekommen, hätte die DDR länger bestehen können: "Ich denke mal, wenn man die Reisefreiheit zugelassen hätte, wäre es nicht zu diesen Ausmaßen der Revolution gekommen." Jedoch wäre nach Weber ein Ende der Regierung unumgänglich gewesen.
Vergangenheit und Gegenwart
Jörg Johne und Heike Weber lernten sich weit nach den Ereignissen im Jahre 1989 kennen. Seit 2014 sind sie ein Paar. "Heike stand vor mir und ich wusste 'Mit dieser Frau möchte ich alt werden'." Für beide war es nie wirklich von großer Bedeutung, auf welcher Seite Deutschlands sie aufgewachsen sind: "Da Jörg schon zu DDR- Zeiten immer bei seinen Großeltern war und auch in den neunziger Jahren schon herzog, kannte er sich hier sehr gut aus. Die Ost-West-Kultur hat auf unsere Beziehung daher wenig Einfluss gehabt", so Weber.
Heute leben sie in einem kleinen Ort nahe Chemnitz. In Sachsen zu leben, war für beide eine bewusste Entscheidung. Johne erinnert sich schmunzelnd an einen Moment von damals zurück: "Als die Grenzen auf waren, haben die aus der DDR gesagt 'Euer Brötchen schmeckt doch gar nicht, eure Wurst schmeckt doch überhaupt nicht'. Und da habe ich gesagt 'Deswegen bin ich ja dann zu euch gekommen. Bei euch hat es viel besser geschmeckt'."
Johne war schon früh bewusst, dass, wenn die Mauer einmal fällt, er in den Osten ziehen würde: "Zu DDR-Zeiten wollte ich schon als Kind nach drüben ziehen. Durfte ich nur nicht. Das haben mir meine Eltern nicht erlaubt."
Heute ist Deutschland kein geteiltes Land mehr. Eine sichtbare Erinnerung an die Mauer ist die Gedenkstätte in Berlin an der Bernauer Straße. Keine Grenzposten. Keine Schüsse. Keine Betonwand: "Ich habe diesen Tag herbeigesehnt, aber nie gedacht, dass das so schnell Wirklichkeit wird", so Weber.